Werne. Am Sonntag ist Wahltag in NRW. Landräte, Oberbürgermeister, Bürgermeister, Stadt- und Gemeinderäte werden direkt von den Bürgern gewählt und sollen in der neuen Legislaturperiode die Geschicke in den Kommunen lenken. Vor 85 Jahren hingegen, im Sommer 1935, besiegelte der damalige Kreisleiter der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) in Lüdinghausen, Karl Tosse, mit seiner Unterschrift unter die Hauptsatzung der Stadt Werne das vorläufige Ende der kommunalen Selbstverwaltung vor Ort. So wurden die Ratsmitglieder beispielsweise nicht mehr von den Bürgern gewählt, sondern von Parteibeauftragten berufen. Über der Namensliste der zwölf Ratsherren stand mit Datum 1. Oktober 1935 demnach zu lesen: „Nachweisung der durch den Beauftragten der NSDAP berufenen Ratsherren“.
Das Blatt ist Teil einer bislang unbekannten Akte ohne Titel, die die Historikerin und Stadtarchivarin Susanne Maetzke im Archiv der Stadt Werne entdeckt und neu inventarisiert hat. Die Zeitdokumente werfen ein Schlaglicht auf die Einführung der Deutschen Gemeindeordnung (DGO) im Januar 1935, die den vorläufigen Bruch mit der kommunalen Selbstverwaltungstradition des 19. Jahrhunderts darstellte.
Im Gespräch mit WERNEplus beleuchtet die Historikerin, wie sich in Werne der Einfluss der NSDAP in der Verwaltung vollzog und die kommunale Selbstverwaltung de facto ausgehebelt wurde. Maetzke zitiert den Paragraph 6 der DGO von 1935: „Zur Sicherung des Einklangs der Gemeindeverwaltung mit der Partei wirkt der Beauftragte der NSDAP bei bestimmten Angelegenheit mit“. Solch eine Einflussnahme einer Partei auf die kommunale Selbstverwaltung habe es bis dahin noch nicht gegeben, ordnet die Historikerin ein.
Tatsächlich biete der Inhalt der Akte die „seltene Gelegenheit sich in diese Zeit hineinzuversetzen, in der sich ein emotionales Gemisch aus Angst, unterdrückter Wut und zum Teil hoffnungslosem Widerstand wohl dann auch häufig leider durch Eigennutz Luft machte“. Denn sie skizzierte die Vorgänge von 1935 hautnah und rückte die Rolle des bis dahin in Werne wenig bekannten Karl Tosse ins Licht. Bei ihren weiteren Recherchen zu dessen Person rekonstruierte die Archivarin ein biografisches Täterprofil über das Handeln der NSDAP in der städtischen Verwaltung von Werne.
Maetzke schildert: „Ihm (Tosse) wurde im Mai 1935 die neue Hauptsatzung der Stadt Werne durch die Gemeinderäte zur Genehmigung vorgelegt. Die fünf kurzen Paragraphen (…) wurden offensichtlich sorgfältig durch die Partei geprüft, bewilligt und Anfang August 1935 in der Nationalzeitung, dem amtlichen Kreisblatt Lüdinghausen, veröffentlicht.“
Das bereits Ende 1933 im Gemeindeverfassungsgesetz verankerte Führerprinzip schlug mit dem Beschluss der Hauptsatzung auch in Werne durch. Fortan habe es keine Sitzung des Stadtrats mehr ohne die Partei gegeben, die Gemeinderäte wurden nicht mehr von den Bürgern gewählt, sondern wie auch die Bürgermeister oder Oberbürgermeister berufen. Auch die Berufung der Beiräte auf sechs Jahre erfolgte durch den Beauftragten der NSDAP. In Werne wurde die Zahl der Gemeinderäte auf zwölf gesenkt. Der Bürgermeister selbst konnte nicht mehr zur Sitzung einladen, das oblag den rangältesten Mitgliedern der Schutzstaffeln und Sturmabteilungen der NSDAP.
„Die Stimmung der Bevölkerung in der Stadt Werne war in diesen Tagen aufgewühlt“, lenkt die Historikerin den Blick auf die zeitliche Parallelität zu den Vorgängen um die Werner Kolpingbrüder.
Nach der Verteilung von Flugblättern durch die Kolpingbrüder und deren Verhaftung Anfang August erschien zeitgleich mit der Veröffentlichung der neuen Hauptsatzung ein Bericht zu diesen Vorgängen. Unter dem Titel „Aus der Lippestadt – Bitte, keine Begriffe verwirren“, wurde darin aus dem Blickwinkel der Partei scheinbar sachlich die Rede von den „Wölfen im Schafspelz“ zurückgewiesen, erläuterte Maetzke sinngemäß.