Werne. „Das Wetter scheint sich zu halten, ungewöhnlich schön für England“, sagte eine Darstellerin und schaute durch ein imaginäres Fenster ins Zuschauerrund der Freilichtbühne. Dort mögen die eine oder der andere geschmunzelt haben. Denn just in diesem Moment ging ein Schauer nieder. Ungeachtet des kühlen Herbstanfangs hatten etwa 700 Menschen auf den Rängen Platz genommen, um „Und dann gab es keines mehr“ zu sehen.
Die Bühnenfassung des gleichnamigen Kriminalromans von Agatha Christie steht als letztes Stück der Saison auf dem Programm. Die Premiere erfolgte am letzten Wochenende im September ungewöhnlich spät. „Wir brauchten für einige Szenen völlige Dunkelheit“, erklärte die erste Geschäftsführerin Desiree Dithmer. Das kulinarische Angebot hatten das Team der Bühne an die Jahreszeit angepasst: In zwei kurzen Pausen während des Dreiakters konnten sich die Besucher mit heißem Kakao, Glühwein und Whiskey aufwärmen – und bei Bedarf warme Decken kaufen. Und trotz widriger Temperaturen lief das Stimmengewirr in der Pause heiß.
Auf die Handlung ließ sich das Publikum gespannt ein. Die Mitglieder der Bühne hatten wie gewohnt keine Kosten und Mühen gescheut, um eine Atmosphäre zu schaffen, in die man eintauchen konnte. In die Kulisse aus geheimnisvoll beleuchteten Laubbäumen fügte sich das Interieur eines britischen Landhauses: dunkelrote Wände, davor verschiedene Sitzgruppen mit gemütlichen Großvatersesseln, troddeligen Lampenschirmen und unzähligen Beistelltischchen mit noch mehr Nippes. Obwohl der Plot im Sommer spielt, schimmerte ein Kaminfeuer. Idylle pur also. Doch nach und nach blickten die Zuschauer in immer tiefere seelische Abgründe.
Christie hat mit „Und dann gab es keines mehr“ – dem bislang weltweit meistverkauften Kriminalroman – ein perfektes Beispiel für ein Locked-Room-Mystery verfasst. Einer Szenerie also, in der Menschen an einem Ort von der Welt abgeschnitten sind. Und dann geschieht ein Mord. In diesem Fall passiert er auf einer Insel und es bleibt auch nicht bei einem unerklärlichen Todesfall. Im Lichtkegel der Bühnenscheinwerfer wurde die Isolation des behaglichen Wohnzimmers scharf umrissen. Das kontrastierte mit der stetig beklemmender werdenden Stimmung unter den stetig dezimierten Figuren. Die gesellschaftliche Tünche bröckelte in dieser Extremsituation schnell.
Die Charakterstudien vermittelten alle zehn Darsteller unter der Regie von Marius Wetter glaubwürdig und mit Freude am Spiel. Als Lebemann Anthony Maston imitierte Marcel Trenz exakt den schleppenden, gelangweilten Tonfall der englischen Upper-Class. Vera Claythorne (Franca Neumann), Sekretärin des ominösen Gastgebers, dienerte sich mit nervtötend servilen Wiederholungen bei jedem neu Eintreffenden an. Major Lombard (Marius Wetter) verkörperte die menschenverachtende Arroganz des britischen Kolonialreiches. Marvin Müller bemühte sich als Richter mit dem sprechenden Namen „Wargrave“ (Kriegsgrab) und aller behäbiger Autorität seines Amtes, Ordnung in die angespannte Situation zu bringen. Sein saloppes Gegenstück: der Ex-Kriminalbeamte Blore, von Thorsten Maß mit vermeintlich harmlosem Poltern gespielt.
Unter der polierten Oberfläche schwelten Neid, Eifersüchteleien. Und die traten mit jedem Mord offener zu Tage. Emily Brent (Jutta Neugebauer), ältlich, bibelfest und bigott, bekrittelte das feminine Outfit der Sekretärin mit der perfekten Einleitung für jede Bosheit: „Ich will Ihnen ja nur einen Rat geben, meine Liebe“. Der resignierte General MacKenzie (Thormen Ehrhardt) entpuppte sich als rachsüchtiger gehörnter Ehemann, der Nervenarzt Armstrong (Holger Schulte) als zeterndes Nervenbündel. Und das Dienerpaar Ethel und Thomas Rogers (Dorothee Gäßner und Max Falkenberg) maulte sich gekonnt durch seine lästigen Pflichten.
Wie bei einem gut komponierten Feuerwerk kamen die Einschläge – sprich: Morde – immer schneller. Im gleichen Tempo spitzten die Darstellenden ihre Dialoge zu. Auch der schwarze Humor der britischen Autorin schimmerte durch. So räsonierte Maston über zwei Kinder, die er überfahren hat: „Das war eine schlimme Sache für mich – obwohl es für die Kinder sicher auch nicht schön war.“ Wer das Stück zum ersten Mal sieht, wird von der Autorin gewieft in die Irre geführt. Wer es kennt, hat seine Freude an den bissigen Dialogen. Außerdem hat Christie zwei Fassungen für das Ende verfasst. Besucher der nächsten Aufführungen dürfen gespannt sein, welches sie in Werne sehen.
INFORMATION
Die nächsten Termine: Samstag, 12. Oktober, Freitag, 4. Oktober, Samstag, 5. Oktober, Freitag, 18. Oktober, Samstag, 19. Oktober. Beginn jeweils 19.30 Uhr. Tickets und weitere Informationen: https://freilichtbuehne-werne.de/