Samstag, Juni 3, 2023

Vor 90 Jahren beginnt Demontage der Demokratie

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Wer­ne. 1932 ver­sorg­te eine „Illus­trier­te Fami­li­en­zei­tung mit Ver­si­che­rung“ mit dem Titel „Son­ne ins Haus” ihre Leser­schaft deutsch­land­weit mit einem bun­ten Aller­lei an The­men. „Eine put­zi­ge Zeit­schrift, sepia­far­ben, weit­ge­hend unpo­li­tisch und hin­rei­chend infor­ma­tiv“, cha­rak­te­ri­sier­te Dr. Anke Bar­ba­ra Schwar­ze die Zeit­schrift am Mitt­woch, 5. April 2023, in der Buch­hand­lung Beckmann. 

Gedruckt wur­de „Son­ne ins Haus“ im Ver­lag Bern­hard Mey­er in Leip­zig, kos­te­te für Abon­nen­ten 70 Pfen­nig pro Heft. Aus den Ein­nah­men der Zeit­schrift deck­te der Ver­lag die Prä­mi­en für Unfall‑, Ster­be- und Kin­der­geld­ver­si­che­run­gen ab.

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Wie sich das (Son­nen-) Blatt nur weni­ge Mona­te nach der Macht­er­grei­fung am 30. Janu­ar 1933 wan­del­te, schil­der­te die Wer­ner His­to­ri­ke­rin in ihrem span­nen­den Vor­trag „Demon­ta­ge der Demo­kra­tie im Brenn­glas. 90 Jah­re Gleich­schal­tung“ vor zahl­rei­chen Zuhö­rern. Ein­ge­la­den hat­te zur die­sem Anlass der Ver­ein der Alt­stadt­freun­de um den Vor­sit­zen­den Karl-Heinz Schwarze.

Floh­markt-Fund zeigt media­le Gleichschaltung

Ein Zufalls­fund auf dem Floh­markt in Hamm hat­te Dr. Schwar­ze eine Ent­de­ckung beschert. Beim Durch­blät­tern der Aus­ga­ben von 1932/33 fiel ihr dann auf, wie eine zunächst harm­lo­se Zeit­schrift nach Hit­lers Ermäch­ti­gungs­ge­setz vom 23. März 1933 sys­te­ma­tisch zur Par­tei­zei­tung verkam.

Das Inter­es­se an dem Vor­trag der pro­mo­vier­ten His­to­ri­ke­rin war groß. Foto: Gaby Brüggemann

Paus­bä­cki­ge Kin­der­ge­sich­ter auf dem Titel, Frau­en­ro­ma­ne in Fort­set­zung, Mode, die Sei­te zu Gar­ten­bau und Klein­tier­zucht oder gele­gent­lich ein­ge­streu­te Rat­schlä­ge von Haus­ärz­ten und Juris­ten – die Son­ne kam deutsch­land­weit als völ­lig harm­lo­se Zeit­schrift ins Haus. Es war unter Arbei­tern und Klein­bür­gern weit ver­brei­tet – auch im Müns­ter­land und im Ruhr­ge­biet, berich­te­te Schwar­ze. Zunächst habe auf den Sei­ten auch nichts dar­auf hin­ge­deu­tet, dass sich mit der Macht­er­grei­fung der fol­gen­schwers­te Umsturz in der deut­schen Geschich­te ereig­net hatte.

Tot wäh­len ließ sich die Demo­kra­tie nicht“, so Schwar­ze. Denn die NSDAP sei bei den Wah­len nicht über ein Drit­tel der Stim­men hin­aus gekom­men. Weil kei­ne par­la­men­ta­ri­sche Mehr­heit zu errei­chen war, ging es dann dar­um, die lin­ken und bür­ger­li­chen Kräf­te aus­zu­schal­ten. Der Kampf gegen den Mar­xis­mus ent­wi­ckel­te sich zu hef­ti­gen Kra­wal­len und Ter­ror – auch im benach­bar­ten Rün­the. Dort kam es Mit­te 1933 bei Stra­ßen­schlach­ten zu etwa 300 Toten.

In Wer­ne wei­ger­te sich Bür­ger­meis­ter Johan­nes Ohm trotz behörd­li­chen Anord­nung, bei Anläs­sen die Haken­kreuz­fah­ne zu his­sen. NSDAP und Zen­trums­par­tei ver­ein­bar­ten schließ­lich, ihn abzu­set­zen, wor­auf sich Ohm zurück­zog. 1935 folg­te die Auf­lö­sung des Gesel­len­ver­eins und 1938 die der Jugend­ver­bän­de. Eini­ge katho­li­sche Grup­pie­run­gen vor Ort hat­ten sich der Gleich­schal­tung verweigert.

Auf den Sei­ten der Zeit­schrift wur­de zur Jah­res­mit­te 1933 ver­bal auf­ge­rüs­tet. Es war die Rede von „Häus­li­chem Krieg“, von „Sol­da­ten im Kampf gegen die Grip­pe“ oder vom „Kampf gegen Hun­ger und Käl­te oder Arbeits­lo­sig­keit“, beschrieb Schwar­ze den Wan­del des Pres­se­or­gans. Von Aus­ga­be 15/1933 an prangt auf jeder Titel­sei­te die dis­kri­mi­nie­ren­de Paro­le: „Deut­sche, lest nur deut­sche Zeitschriften“.

Dr. Anke Schwar­ze ver­an­schau­lich­te die Gleich­schal­tung der Medi­en am Bei­spiel der Zeit­schrift „Son­ne ins Haus”. Foto: privat

Illus­trier­te mit Ver­si­che­rung“ bringt Leserbindung

Mit der „Illus­trier­te mit Ver­si­che­rung“ führ­te der Unter­neh­mer Bern­hard Mey­er schon früh­zei­tig nach eng­li­schem Vor­bild das Modell der die Abon­nen­ten­ver­si­che­rung ein. Wer die von ihm ver­leg­te Zeit­schrift „Nach Fei­er­abend“ bezog, erwarb eine Unfall­ver­si­che­rung und spä­ter eine Ster­be­geld- und Kin­der­un­fall­ver­si­che­rung, erläu­ter­te Anke Schwar­ze. Als Part­ner kam 1899 die Nürn­ber­ger Ver­si­che­rung ins Boot. Ein Erfolgs­mo­dell. Der Ver­le­ger pro­fi­tier­te vom Lock­vo­gel­an­ge­bot, die Ver­si­che­rung von der Erwei­te­rung des Kun­den­stamms. „Die Leser waren auf das Blatt ein­ge­schwo­ren. Umge­kehrt lie­ßen sie sich über das Blatt einschwören“.

Ent­mensch­li­chung in der Sprache

Buch­ver­lag und Dru­cke­rei gin­gen nach Mey­ers Tod 1917 auf des­sen Schwie­ger­sohn Kurt Her­mann über – einem engen Freund von Her­mann Göring. Heft um Heft wur­den Begrif­fe der Ent­mensch­li­chung gewählt und Men­schen als Para­si­ten, Schäd­lin­ge und Unge­zie­fer bezeich­net. In einer radi­ka­len Kehrt­wen­de gewöhn­te das Pres­se­or­gan die Leser an Spra­che, Sym­bo­le und Den­ken der Natio­nal­so­zia­lis­ten, berich­te­te die Referentin.

Schließ­lich zog sie den Bogen zur Gegen­wart: Sprach­li­che Ver­ro­hung sei kein Phä­no­men des digi­ta­len Zeit­al­ters, ver­wies sie auf einen Vor­tag des His­to­ri­kers Andre­as Wirsching.

Der hat­te im Juli 2019 im Thea­ter Müns­ter über das Erbe der Wei­ma­rer Repu­blik gespro­chen – knapp zwei Mona­te, nach­dem der Kas­se­ler Regie­rungs­prä­si­dent Wal­ter Lüb­cke von einem Rechts­extre­mis­ten erschos­sen wor­den war. Hass­ti­ra­den im Inter­net waren dem Mord vor­aus­ge­gan­gen. Fatal habe sich Wir­sching an ein lan­ge zurück­lie­gen­des Atten­tat auf Außen­mi­nis­ter Walt­her Rathen­au erin­nert gefühlt. Er wur­de erst Opfer einer ver­ba­len Hetz­jagd, dann eines Anschlags.

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