Werne. Ein Mensch wird öffentlich gedemütigt, gefoltert und brutal ermordet: So betrachtet ist die Leidensgeschichte Jesu heute so aktuell wie zu allen Zeiten. Ihr Kern berührt – das bekundete am Sonntag (19. März) der Motettenkreis Werne in der voll besetzten Klosterkirche: Zur Feier seines 50-jährigen Bestehens hatte der Chor die Johannespassion von Johann Sebastian Bach einstudiert.
Verhaftung, Anhörung, Kreuzigung und Grablegung: Das Evangelium nach Johannes spitzt das dramatische Geschehen in knappen Worten zu. Bach komponierte dazu eine emotional aufwühlende Musik. Der Motettenkreis und fünf Solisten formten daraus eine spannungsgeladene Atmosphäre – direkt unter dem barocken Altargemälde der Klosterkirche, auf dem das Geschehen augenfällig verdichtet wird. Ebenso wie der Pinselstrich schärften stimmliche Kontraste das Klangbild. Während die hohen Frauenstimmen beim Eröffnungschor die Herrlichkeit Christi besangen, erinnerten tiefe Bässe an seine „größten Niedrigkeiten“.
Sprach der Motettenkreis in den Chorsätzen sozusagen mit Volkes Stimme, versetzte er die Zuhörenden mitten ins Geschehen. Wütende „Kreuzige“-Rufe, aufbrausende Häme, bissiges Staccato schallte dem Publikum entgegen.
Völlig anders erklangen dann die Choräle, in denen die Ereignisse kommentiert und reflektiert werden. Die nach innen gewendete Glaubensschau formulierte der Motettenkreis mit aller gebotenen Zurückhaltung – wie eine Einladung zur Meditation. Das Orchester „Concert Royal Köln“ untermalte hier mit fein hingetupften Akzenten, dort mit wogenden Klangmassen.
Bachs Passion lebt von schnellen Dialogwechseln zwischen Jesus, Pilatus und dem Volk. Die Sängerinnen und Sänger brachten das auf den Punkt, folgten exakt dem Dirigat von Rainer Kamp. Ebenso präsent zeigten sich die Bässe Johannes Schwarz als Pilatus und Christian Walter als Jesus. Walter intonierte mit der prophetischen Tragweite und der Standfestigkeit eines Menschen, der seine Zweifel hinter sich gelassen hat. Seine pointierte Darbietung brachte Momente zum Leuchten, die untergehen können: etwa jenen Moment, in dem Jesus ruft „Mich dürstet!“ – und Essig gereicht bekommt.
Der aus Werne stammende Johannes Schwarz verlieh der zwiespältigen Rolle des Pilatus einen machtvollen Klang. Seine kühle Ruhe ließ die aufgepeitschte Menge um so hasserfüllter erscheinen.
Henning Jendritza hatte mit dem Evangelisten den wortreichsten Part der Passion übernommen. Der Tenor intonierte die Rezitative mit lebhafter Erzählstimme und effektvollen Tempowechseln, glänzte in Arien mit ungebrochener Strahlkraft. Judith Hoffmann, Sopran, und Magdalena Hinz, Alt, legten ihre Betrachtungen über die Passion poetisch an. Hinz malte mit cremigen Farben und feierlichem Duktus. Schlank und agil zeichnete Hoffmann verhaltenen Jubel und ergreifende Klage. Das letzte Wort gehörte dem Motettenkreis: Im finalen Choral bat er um Erlösung – der einzige Hoffnungsschimmer, den Bach in seiner Johannespassion gewährt.
Trotz anhaltender stehender Ovationen gab es keine Zugabe. Eine gute Entscheidung: Dem Finale der Leidensgeschichte war nichts mehr hinzuzufügen.