Werne. „Wohin gehst du, Afghanistan?“ Um es vorwegzunehmen: Diese Frage kann auch ein profunder Afghanistan-Experte wie Dr. Erös nicht beantworten – die politische Lage ist derzeit zu unübersichtlich. Auf Einladung des Inner Wheel Clubs Lünen-Werne hielt der Mediziner einen kenntnisreichen und engagierten Vortrag.
Fest steht, dass sich der vielfach geehrte 74-jährige Mediziner, Humanist und Buchautor auch zukünftig für die Verbesserung der Lebenssituation von Kindern und Frauen in drei Ostprovinzen Afghanistans einsetzen wird. Über sein Lebenswerk und die aktuelle Situation im Land referierte er mit viel Herzblut.
Das Ehepaar Erös gründete 1998 die Kinderhilfe Afghanistan, mittlerweile die größte private Hilfsorganisation am Hindukusch. Es wurden u.a. ein Krankenhaus, eine Universität, Waisenhäuser und 30 Haupt-, Berufs- und Oberschulen für 60 000 SchülerInnen gebaut. Über 2000 einheimische Angestellte finden dort entlohnte Arbeit.
Ausschließlich durch Privatspenden wird die Hilfsorganisation finanziert. Auch nach der Machtübernahme durch die Taliban laufen sämtliche Projekte weiter. „Anders als in den übrigen Provinzen dürfen ‚unsere‘ Mädchen weiterhin zur Schule gehen, auch in die Oberstufe.“ Erös reist regelmäßig nach Afghanistan, um seine Projekte zu unterstützen, zuletzt nach dem Erdbeben im Juni 2022.
Dr. Erös genießt seit den 1980er Jahren großes Ansehen bei den Afghanen, weil er als einziger westlicher Arzt während der sowjetischen Besatzung unter gefährlichen Kriegsbedingungen ein medizinisches Netzwerk aufbaute. Unter seiner Verantwortung wurden in Höhlenkliniken jährlich 100.000 Kriegsopfer behandelt, heißt es.
Das erworbene Vertrauen und die Kenntnis der Sprache der Paschtunen, der größten Volksgruppe, halfen Erös beim Aufbau seiner Hilfsorganisation. Das Wissen um Traditionen, Landeskunde und Geschichte sind in einem Vielvölkerstaat wie Afghanistan (>30 Ethnien, >40 Sprachen) zur Erreichung von Zielen unentbehrlich. Diese „interkulturelle Kompetenz“ vermisst Erös bei vielen politischen Entscheidungsträgern.
Der Referent, ein Mann klarer Worte, gerät geradezu in Rage, wenn er an Fehleinschätzungen der Politik denkt. Heftig kritisierte er US-Präsident Bushs Ankündigung eines „Kreuzzugs gegen den Terrorismus“ nach 9/11, ebenso Bundeskanzler Schröders „bedingungslose Solidarität“. Bekannte Folgen: Ein 20-jähriger NATO-Einsatz mit vielen Toten und Verletzten, der nach Erös‘ Ansicht von Beginn an zum Scheitern verurteilt war. Die Afghanen seien ein Volk, das niemals aufgebe. In diesem Wissen hatte Erös, zum Zeitpunkt des Terroranschlags in New York noch Bundeswehrarzt, um seine vorzeitige Pensionierung gebeten. Er kritisierte lautstark die unvorstellbar hohen Kosten von 1.300 Milliarden US Dollar, die der teuerste Krieg der Menschheitsgeschichte im militärischen Bereich verschlungen hat. Für den zivilen Aufbau wurden lediglich 90 Milliarden eingesetzt, berichtete er.
Erös beschreibt die aktuelle Lage so: Die Menschen auf dem Lande seien froh über den Abzug der westlichen Truppen. Sie können wieder ohne Angst vor Drohnenangriffen zur Arbeit oder zur Schule gehen. Im Verlauf der Kriegshandlungen seien 40 „seiner“ Kinder getötet worden. Vom Großteil der Bevölkerung werde begrüßt, dass die Taliban wieder an der Macht sind, weil sich seitdem Korruption und Kriminalität minimiert hätten. Unter den Taliban befänden sich „ein Drittel Verbrecher, die sind irre; ein Drittel Unentschiedene und ein Drittel vernünftige Politiker“. Mit diesem Drittel verhandelt Erös und trinkt „Tee mit dem Teufel“ (sein Buchtitel), um Ziele zu erreichen, z.B. eine neue Schule zu bauen.
Viele andere Aspekte griff Erös in dem 2,5stündigen hochinteressanten Vortrag kritisch auf: Die katastrophale wirtschaftliche Situation, der Hunger, fehlende medizinische Versorgung. Das unwirksame System der Entwicklungshilfe in korrupten Staaten wie Afghanistan. Der Anbau von Schlafmohn, der sich in den letzten 20 Jahren vervielfacht habe. Die Situation moderner afghanischer Frauen. Der Umgang mit Ortskräften. Die teilweise lückenhafte Berichterstattung der Medien.
Mit kräftigem Applaus zollten die Zuhörer/innen dem Referenten ihren Dank für einen kenntnisreichen, diskussionswürdigen Vortrag und dem Ehepaar Erös ihre Hochachtung für ihren unermüdlichen Einsatz.
Afghanistan, dieses geschundene und von Erös so geliebte Land, quo vadis? An anderer Stelle antwortete der Ur-Bayer und Weltenbürger mit einem Kalauer von Karl Valentin: „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“