Werne. 2020 war eine Art Schicksalsjahr für Sim-Jü. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg fiel unsere große Kirmes aus – und selbst eine bereits angekündigte Mini-Sim-Jü musste wegen der Pandemie abgesagt werden.
Sim-Jü-Experte Rainer Schulz erinnert sich:
Da ich mich schon als Kind für die Geschichte von Sim-Jü lebhaft interessierte, fiel mir als Parallele hierzu sofort das Jahr 1952 ein. 69 Jahre ist es jetzt her, dass Sim-Jü schon einmal einer Epidemie zum Opfer fallen sollte, der Polio-Epidemie, besser bekannt als Kinderlähmung.
Im August 1952 waren zur Bekämpfung der hochansteckenden Krankheit (oft mit Todesfolge) im Ruhrgebiet einschneidende Maßnahmen erlassen worden, die ab Ende des Monats auch auf den Regierungsbezirk Münster ausgedehnt wurden. Die Bestimmungen besagten unter anderem: „Massenveranstaltungen, die über sechs Stunden hinausgehen, insbesondere Jahrmärkte, Volksfeste wie Schützenfeste und Kirmessen, Tierschaufeste und landwirtschaftliche Ausstellungen sind verboten.“
Wir Schulkinder der Steintorschule, die ja direkt in Kirmesnähe lag und auf der immer die Schaustellerkinder zur Mai- und Sim-Jü-Kirmes zu Gast waren, hatten eine besondere Beziehung zu Sim-Jü. Da war die Enttäuschung natürlich groß und wir machten fast alle lange Gesichter, denn die Verbote sollten zunächst bis einschließlich 31. Oktober gelten, und Sim-Jü war für den 26. bis 28. Oktober vorgesehen.
Wir konnten uns gar nicht vorstellen, dass unsere berühmte Kirmes, auf die wir uns so freuten, ausfallen sollte, aber nun sah es tatsächlich so aus. Doch wie heute arbeitete die Stadtverwaltung, hier insbesondere Ordnungsamt und Stadtinspektor August Veltmann, unbeirrt weiter auf Sim-Jü hin. Er hatte die Hoffnung, für Sim-Jü eventuell eine Sondergenehmigung erstreiten zu können, weil die Kirmes am Ende der Verbotsperiode lag. Doch soweit kam es überraschenderweise erst gar nicht und kurz vor Sim-Jü leitete Veltmann folgenden Text an die Presse weiter: „Die Gefahr, daß das Volksfest Sim-Jü ebenso wie viele Veranstaltungen der letzten Zeit ein Opfer der Kinderlähmung werden würde, ist beseitigt. Die in der Polizeiverordnung zum Schutze gegen die Kinderlähmung enthaltenen einschränkenden Bestimmungen wurden bereits aufgehoben, so daß es jetzt feststeht: auch 1952 Sim-Jü!“
Diese Nachricht wurde nicht nur von der Stadtverwaltung mit einem befreienden Seufzer der Erleichterung aufgenommen. Vor allem Geschäftsleute, Gastwirte, nicht zuletzt aber auch die große Zahl der Schausteller, Aussteller, Bauern, Handwerker und sonstigen geschäftlichen Interessierten haben aufgeatmet, dass ihnen das lohnende „Objekt“ Sim-Jü nicht verloren ging.
Sicher ist auch, dass sich die vielen privaten Freunde des Simon-Juda-Jahrmarktes, die Werner Bevölkerung und die vielen auswärtigen Besucher, freuten, dass sie im Vergnügungsrummel des Werner „Oktoberfestes“ einmal wieder so richtig „ut de Holschken“ kommen.“
Veltmanns Text, der schnell die Runde in Werne machte, erzeugte bei uns Kindern wahre Jubelstürme, war für uns das Fest des Jahres doch gerettet. Schon wenige Tage später hingen überall die Plakate und die ersten Schausteller trudelten ein. Es wurde eine grandiose Kirmes mit zwei ganz besonderen Attraktionen, dem „Wasser-Skooter“ (Motorboot-Selbstfahrer) und der großen Holzachterbahn von Karussellkönig Hugo Haase, Hannover.
Nachbemerkung: Wenige Jahre später wurde gegen die Kinderlähmung die sogenannte Schluckimpfung unter dem Motto „Schluckimpfung ist süß – Kinderlähmung ist grausam“ mit großem Erfolg eingeführt.